Für die aktuelle EMMA wurde ich von Bettina Flitner fotografiert und durfte einen Nachmittag lang am eigenen Leib ihr Ringen um den richtigen Moment und den treffenden Ausdruck erleben. Als ich sofort nach dem Shooting Flitners Taschenbuch „Meine Schwester“ las, entdeckte ich ein ganzes Gemälde treffender Aufnahmen. Auf 300 Seiten versucht die bekannte Fotografin, dem Suizid ihrer älteren Schwester Susanne schreibend auf den Grund zu gehen. Gelungen ist ihr ein emotionales und formulierungstechnisches Meisterwerk.
Korridor der Konfliktlösung geöffnet
Die Geschichte beginnt am Todestag der Schwester mit den bangen Momenten, in denen Flitner irgendwann nicht mehr verdrängen kann, dass der Schwester etwas zugestoßen sein muss. Während sie immer nervöser um Rückruf bittet, blitzen Szenen aus der gemeinsamen Familiengeschichte in den 70er und 80er-Jahren auf. Man spürt die Präsenz von Frau Tasch, der geheimen Geliebten des Vaters und schmeckt die Ahoibrause beim Kindergeburtstag des Jesuskind genannten Nachbarskindes. Man hört den pseudoerhabenen Waldorflehrer dozieren und sieht die kleine Bettina in New York übers Baseballfeld flitzen. Auf der Bildfläche erscheinen Api und Ami, die Großmutter, die mit der „ihr eigenen hochmütigen Bescheidenheit“ lächelt, wenn sie die Enkelinnen zu erziehen beliebt. Im Hintergrund verdorrt die elterliche Ehe, bis sie aussieht wie der Gummibaum, in dessen Blätter die Schwestern ihre Stricknadeln gebohrt haben.
Die Autorin erklärt zwar, mit der Suche nach dem Warum gescheitert zu sein, doch sie skizziert Szenarien und Abwärtsspiralen, die einem vertraut vorkommen, wenn man mit dem Thema Suizid konfrontiert wird: die zunehmenden depressiven Phasen der Mutter, die mit ihrer eigenen Selbsttötung der Schwester einen „Korridor der Konfliktlösung“ öffnet. Oder die Diskrepanz zwischen Innen und Außen, wenn die Familienmitglieder „in der Familienkulisse“ stehen wie „ausgeliehene Statisten“. Oder der Umgang mit dem beruflich eingespannten Vater, der „wie ein Irrlicht“ mal da ist und öfter mal nicht. Und natürlich der Pessimismus, das Ärztehopping und die Zerstörungswut der Schwester, die sie unter anderen gegen die Pullis der Mutter richtet („wollte sie die Blessuren durch die totale Zerstörung unsichtbar machen?“).
Eine Jugend in den siebziger Jahren, in der nicht alles in Ordnung war
Während sich die jüngere Bettina mit 29 die Freiheit nimmt, gegen den Willen des elterlichen Establishments Fotografin zu werden, bleibt die Lebensplanung der älteren Susanne irgendwo auf der Strecke. Aus der Comedy-begabten Schulschönheit wird eine arbeitslose Modeverkäuferin, die mit perfektionistisch arrangierten Cremes versucht, den Schein zu wahren, und bei deren Lachen sich Bettina fühlt, als „höhlte mich meine eigene Herzlichkeit von innen aus“. Als sie die Schwester für Bewerbungsfotos durch den Sucher ihrer Kamera betrachtet, ist ihre früher nicht zu übersehende Schwester vor Angst „halb durchsichtig“ geworden.
In einem Koffer findet die Autorin einige Monate nach dem Tod Andenken, die die Schwester dort hineingelegt hat, damit man sich an sie „erinnert“. Mit „Meine Schwester“ ist Bettina Flitner in jedem Falle ein Werk gelungen, an das man sich erinnert und das zugleich ein bisschen Trost gibt.
Enttäuscht hat mich die Hörbuchfassung. Sie wird nicht von der Autorin selbst, sondern von einer Sprecherin gelesen. Die zermahlt mit ihrem gleichförmig ahnungsvollen Tonfall jeden Wortwitz zu Brei. Besser bei der Leseversion bleiben, aber in jedem Fall kaufen!
Buchdaten von „Meine Schwester“
- „Meine Schwester“
- Verlag: Kiepenheuer&Witsch
- Erscheinungstermin Hardcover: 10.02.2022
- Erscheinungstermin Taschenbuch: 17.08.2023
- 320 Seiten
- ISBN: 978-3-462-00237-9
- Autorin: Bettina Flitner
- https://www.kiwi-verlag.de/buch/bettina-flitner-meine-schwester-9783462002379
Die aktuelle EMMA:
Sehr lesenswert, nicht nur, weil ich auf Seitei 10 porträtiert bin: 002_003_inhalt_26.pdf (emma.de)
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