In diesem Gastbeitrag erzählt die TV-Journalistin und Autorin Anne Webert, wie sie 1989 mit Jugendlichen 24 Jahren eine Partei mitgründete und für den Stadtrat kandidierte. Das finde ich übrigens umso sympathischer, als auch ich 1989 erstmalig für einen Gemeinderat kandidierte. Und unter Corona-Gesichtspunkten geradezu prophetisch ist die politische Forderung der damaligen Neugründung, das Krankenhaus in städtischem Besitz zu halten. Lest selbst und erfahrt, wie Anne bei ihrem Einstieg in die Politik erlebte.
Von Anne Webert
Wie ich auf die Idee kam, eine Partei zu gründen? Wohl auch, weil es mir schon immer wichtig war, Dinge zu verbessern, andere zu unterstützen und ich gelernt habe, dass man dazu selbst aktiv sein/werden muss. Dem wirklich liebevollen Rat meiner Eltern, nicht für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen, bin ich noch nie gefolgt. Werde ich wohl auch künftig nicht.
Diez 1989
Wilhelm-von-Nassau-Kaserne, Freiherr-vom-Stein-Kaserne und das Schloss Oranienstein zeichneten Diez als wichtigen Garnisionsstandort aus. Darauf setze der damalige Stadtrat. Jenseits des Stadtkerns und der hessischen Nachbarstadt Limburg zugewandt, entstanden Supermärkte und ein gemeinsames Gewerbegebiet. Dadurch verlor die Innenstadt von Diez an potenziellen Kunden und Attraktivität, der Wochenmarkt war nach meinem Gefühl eines der ersten Opfer.
Ich wollte nach einem Ausflug in die Oecotrophologie endlich etwas Sinnvolles tun und begann eine Lehre als Uhrmacherin. Warum nun Uhren zu reparieren sinnvoller ist als sich mit Ernährung zu beschäftigen, fragt man sich. Aber es machte damals Sinn für mich – wenn die Uhr wieder tickt, hört frau, dass sie es geschafft hat. Besser als mit dem Professor über die meiner Meinung nach Unvergleichbarkeit von Äpfeln untereinander zu diskutieren. 😉
„Diezer Alternative“ oder „Wählergruppe Albrecht“ – unsere Partei
Ja, wenn wir damals geahnt hätten, welch schalen Beigeschmack der Begriff Alternativ inzwischen hat, hätten wir ganz sicher nach einem anderen Namen gesucht. Aber 1989 war eine Alternative noch eine. Und der Versuch, einen Ableger der Grünen in unserer kleinen Stadt zu gründen, misslang. Daher beschlossen die Initiatoren Bernd Egger (mein ehemaliger Kunstlehrer) und Michael Albrecht (Spitzenkandidat und Vorsitzender vom Bund Natur und Umweltschutz), sich auf rein kommunale Themen zu konzentrieren und eine eigene Partei zu gründen. Uns allen waren die ewig einstimmigen Beschlüsse, die vor allem wirtschaftlichen Interessen Rechnung trugen, zu viel. Wir wollten transparentere, humanere und ökologischere Entscheidungen für Diez.
Wir sahen damals, wie Limburg sich gezielt weiter entwickelte und Diez in einen Dornröschenschlaf zu fallen drohte und stellten daher zur Kommunalwahl am 18. Juni 1989 eine eigene Liste auf. Da wir nicht viele aktive Unterstützer hatten, kandidierten wir auf den vorderen Plätzen der Liste für jeweils drei aufeinanderfolgenden Listenplätze, um keine Stimmen zu verschenken – ich war fünfte in der Reihe und belegte die Plätze 13, 14, 15. Damit war von Anfang an klar, dass ich nicht in den Stadtrat einziehen würde.
Die Zusammensetzung wäre – was das Alter betraf, nicht den Anteil von drei Frauen unter 11 Kandidaten – heute auch noch vorzeigbar. Unser Spitzenkandidat war 33, der zweite mit 44 fast der älteste in unserem Trupp. Die anderen waren 30, 36, 45, 29, 32, 34 und 31. Ich war mit 24 die jüngste Kandidatin.
Unsere Kernforderungen
- Industriegebiet sinn- und maßvoll entwickeln
- Krankenhaus in städtischem Besitz halten
- Attraktivität der Innenstadt stärken
- weniger Spielhallen, mehr Freizeitangebote
- Wohngebiete generell Tempo 30
- Sammelstellen für Sondermüll
- kommunales Wahlrecht für Ausländer
Und dann?
Einer von uns gewann für unsere Partei, die offiziell als „Wählergruppe Albrecht“ auftrat, tatsächlich einen Sitz im Stadtrat in Diez: Walter Stillger. Er hatte die Plätze sieben, acht und neun unserer Liste belegt und kämpfte für uns fünf Jahre – leider ziemlich vergeblich, da die übrigen Parteien ihn (und eine weitere Einzelkämpferin) nicht als Fraktion anerkannten und von allen Ausschüssen und internen Besprechungen fernhielten. Er verzichtet dann auf weiteres Stadtrats-Engagement. Die Wählergruppe benannte sich in „Pro Diez“ um und konnte bis 2004 beständig zwei Stadträte stellen und so manchen Kollegen (einschließlich Bürgermeister Maxeiner) ins Schwitzen bringen…
Inzwischen …
Engagiere ich mich immer noch in Vereinen (habe zwei gegründet) und Verbänden rund um Natur, Genuss, Kultur, Nachhaltigkeit und Journalismus. Ich habe mich auch noch mal zur Wahl aufstellen lassen. Bei den Grünen als Freie für den Stadtrat in Dießen am Ammersee, 2008. Mir gelang damals der „Sprung“ vom 6. auf den 4. Platz zur Nachrückerin. Ein Achtungserfolg, der mir zeigte, dass mein Engagement für den Ort durchaus wahrgenommen wurde.
Ausblick
Zufällig – oder auch nicht – lese ich gerade Obamas „Verheißenes Land“ und sehe vor allem, wie wichtig es ist, dem Drang zur Politik zu folgen. Natürlich auch, wie anstrengend, frustrierend und zeitaufwendig.
Dennoch werde ich aktiv bleiben und freue mich über junge Frauen und Männer, die sehen und erleben, was der eigene Einsatz bewirkt. Von wegen „Politikverdrossen“ – das wurde auch uns damals schon um die Ohren gehauen. Ein Quatsch. Es gibt „sone und solche“, wie das Känguru weiß. Doch diejenigen, die einen Sinn in ihrem Einsatz für ein Ziel sehen, werden daraus auch immer für sich selbst positive Impulse ziehen.
Ob frau nun wirklich dafür eine neue Partei gründen muss, muss jede für sich entscheiden. Ich würde es heute wohl nicht mehr machen – obwohl ich gerade überlege, ob ich mit einigen Frauen einen Verlag gründe 😉 Ihr wisst schon – einen mit den richtigen Zielen und Werten.
Vielen Dank, liebe Anne für diese schön bebilderte und wertvolle Schilderung, deinen vielfältigen Einsatz in Vereinen und sowohl vor und hinter der Kamera, und dein Mutmachen, in die Politik zu gehen! Und über den Verlag mit den richtigen Zielen und Werten möchte ich gerne bald mehr hören! Danke und liebe Grüße, Eva
Regula Zellweger
Wunderbar, hier der jungen Anne zu begegnen. Und zu sehen, wie sie sich treu geblieben ist!
Engagement total – beispielsweise für junge Leute, die in der Küche der Food-Bloggerin Anne, http://www.annes-topfgeflster.de, ein Zuhause finden, Essen geniessen, Zuwendung und Geborgenheit vermitteln.
Essen teilen, heftig diskutieren und lösungsorientiert und soziale Verantwortung wahrnehmend handeln – dies leben Anne und Guido jungen Menschen vor, selbstverständlich und voller Bescheidenheit. Auch das ist Bildung von politischem Nachwuchs.
Anne teilt ihr Freude an alten Pflanzensorten und Tierarten beispielsweise in ihrem Blog, aber auch in ihren Büchern. Auch das ist politisches Engagement!
Anne hat mir Diessen gezeigt. Sie ist eine wunderbare Botschafterin ihres Wohnortes. Auch dies ist politisches Engagement.
Überzeugend ist Anne in Ihrem berufspolitischen Engagement für den unzensierten Journalismus, für die Anliegen von Journalistinnen und Journalisten.
Gäbe es Anne nicht, müsste man sie erfinden, denn sie ist SUPER!
engelkeneva
Liebe Regula Zellweger,
herzlichen Dank für diese freundliche Rückmeldung, der ich mich nur anschließen kann. Mit Anne wird auch mein Netzwerk reicher!
Viele Grüße, Eva
Anne
Mädels – lieben Dank, Aber jetzt laufe ich mit megarotem Kopf durch den Ort ;-))