Wenn man das linke Bein partout nicht belasten darf und will, weil’s höllisch weh tut, wird das Leben plötzlich ziemlich anders. Nix von all dem Rumgerenne, mit dem ich sonst meine Zeit verbringe, wenn ich nicht gerade arbeite oder politisch aktiv bin, geht mehr. Wo ich hinwill, muss ich auf Krücken hinhumpeln. Mit Bänderriss wird Barrierefreiheit zu echter Freiheit. Mein Mini-Erfahrungsbericht.
Am Herd stehen und einen Kaffee kochen zu wollen, ist ein Drama in vier Akten. Im Sieb klebt noch das Kaffeemehl von gestern, der Mülleimer ist aber mindestens vier einbeinige Hüpfer entfernt. Wenn ich es dorthin geschafft habe, um das Sieb auszuklopfen, bin ich mindestens sieben Hüpfer vom Schrank mit dem Kaffeepulver entfernt und rund 10 Hüpfer vom Kühlschrank mit der Milch. Da erfordert jeder Schritt strategische Planung.
Mich wie sonst mit einer vollen Kaffeetasse lässig ins Arbeitszimmer zu begeben, entfällt. Schließlich will ich den Kaffee ja trinken und nicht auf den Boden schütten. Zudem wäre Milchkaffeeglitsch für mich als Krückenmonster wie die berühmte Bananenschale in Comics: 100 Prozent Hinfallgarantie. Mit der Thermotasse mit Deckel in der Tasche schaffe ich es schließlich.
Selbst Haarewaschen und Duschen bekomme ich hin. Geradezu akrobatisch fühle ich mich, wenn ich mich mit ausgestrecktem Gipsbein in eine Badewanne setze, das gesunde Bein im Yogasitz unter mir falte und mich dann nach hinten ablege, um das Shampoo auszuspülen. Wie sich die Szene wohl in einem Krimi machen würde? Ob ich einen Angreifer mit einem gezielten Gipsbeinschlag außer Gefecht setzen könnte? Eher unwahrscheinlich, ich komme ja kaum aus der Wanne.
Auch Treppehochgehen geht bislang nur sitzend. Wenn ich meinen Hintern Stufe für Stufe die Treppe hochstemme, sehe ich stets einen Abend vor einigen Monaten vor mir, wo ich gedankenlos mein Fahrrad an den Handlauf einer Treppe gekettet hatte. Als eine dauerhaft fußkranke Bekannte dazu kam, musste man mich herausklingeln, damit ich die blockierte Treppe für sie freimache. Während ich mich einbeinig mit komischen Turn- und Ziehübungen wieder vom Dielenboden aufrichte (probieren Sie das mal aus, das eröffnet ganz neue Perspektiven!), schwöre ich mir, dass mir das in Zukunft nicht noch einmal passiert.
Überhaupt ist „barrierefrei“ sehr plötzlich zu einem Wort mit Sinn mutiert, denn überall tun sich Barrieren auf. Bushaltestellen ohne Bank zum Sitzen, wenn man nicht lange stehen kann, sind Barrieren. Treppen ohne Lift oder Handlauf: Barrieren. Allüberall Barrieren und Blockaden für Fußkranke. Von Barrieren für Seh-, Hör-, Ess-, Arm- und sonstwie-Kranke mal ganz zu schweigen. Bei mir wird die Chose mit etwas Glück in acht Wochen vorbei sein. Meine Sensibilität für Leute mit Einschränkungen wird hoffentlich bleiben, soll bleiben.
Und dafür, dass die 92-jährige Dame aus Eicken wieder ihre Bank an der Bushaltestelle bekommt, werde ich persönlich noch mal bei Bezirksverwaltung nachhaken.
Nachtrag:
Heute war ich im Supermarkt und habe eingekauft. Also, genau genommen, wurde ich von einem lieben Menschen hingefahren und humpelte ein Winzrunde durch den Supermarkt rein, während mein Begleiter mit Einkaufswagen dicht auf folgte, alles ins Auto und dann in die Küche schleppte. Es war sehr gerecht aufgeteilt: Er machte die Arbeit und ich war anschließend fix und alle.
Uli
Wichtige Erkenntnisse verstärken sich oft erst, wenn man selbst betroffen ist – das liegt wohl in der Natur unserer schnelllebigen Welt!
Eine davon ist die Sensibilität für Leute mit Einschränkung.
Eine andere (hoffentlich), dass man auf Wunsch auf helfende Hände bauen kann!
Gute Besserung – und: Ich helfe gerne!
engelkeneva
Danke! Und ja, die Erfahrung, dass so viele Leute da sind, die bereit sind zu helfen oder vielmehr: nicht nur bereit sind, sondern tatkräftig mit anpacken, das ist ein ganz wunderbares Geschenk!
kommunikatz
Liebe Eva,
danke für diesen Erfahrungsbericht und das Teilen Deiner Erkenntnisse! Die vielen Alltagsbarrieren bemerkt mensch wirklich erst, wenn sie einen selbst oder eine Person aus dem direkten Umfeld betreffen. Und helfende Hände sind dann zwar super, aber letztendlich geht durch jede einzelne Handlung, für die mensch Unterstützung braucht, ein Stück Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit flöten. Barrierefreiheit ist daher vor allem Eines: Unabhängigkeit von anderen Menschen, die schließlich auch nicht immer verfügbar sind. Davon sind wir in der Tat noch sehr weit entfernt, zumal das Thema auch dadurch erschwert wird, dass Barrierefreiheit für einen körperlich eingeschränkten Menschen ganz anders aussieht als beispielsweise Barrierefreiheit für einen blinden Menschen. Wo ich einen mit dem Langstock ertastbaren Bordstein brauche, braucht jemand im Rollstuhl oder mit Gehhilfe eher einen abgeschrägten Übergang, um nicht hängenzubleiben, zu stolpern oder umzufallen. Aber einen flachen Bordstein kann ich nicht ertasten und laufe einfach auf die Straße vors nächste Auto. Und von diesen Dilemmata gibt es unzählige.
Ich wünsche Dir gute Besserung und noch eine spannende Zeit mit Gipsbein! Ist nicht so zynisch gemeint, wie es klingt 😉
liebe Grüße
Lea
engelkeneva
Liebe Lea, danke für deinen Kommentar! Ja, da sagst du was sehr wichtiges, was Goethe ausgedrückt hat mit dem Spruch „Jedem das Seine“, das dann zynischerweise über dem Tor eines KZs als Spruch angebracht wurde. Aber es ist ja tatsächlich auch mit der „Gleichheit“ so: Wenn du allen die gleichen Rechte gibst, ist nicht allen gedient, und im Zweifel sind die Schwächsten erst Recht ungeschützt. Witzigerweise geht es um dieses Thema auch bei meinem andern Thema hier im Thread, das Selbstbestimmungsgesetz. Wenn du allen das Recht gibst, sich frei und selbstbestimmung dafür zu entscheiden, das juristische Geschlecht einer Frau zu haben, sind die Frauen nicht mehr gleich, sondern ungeschützt vor Männergewalt.
Danke dir sehr!
Viele Grüße, Eva