Lieber Linus Giese,
zu Ihrer laut Süddeutscher Zeitung von gestern geäußerten Aussage, dass Sie Männlichkeit mit Ihren Vorstellungen ersetzen und gleichzeitig Bart und Nagellack tragen wollen, möchte ich Sie beglückwünschen. Wir brauchen Menschen, die strikte Geschlechterrollen aufweichen. Wir haben uns von der Industrie schon zu viel blau und pink aufschwatzen lassen und und ich habe schon zu viele Frauen und Männer erlebt, die unter Selbstzweifeln und Rollenerwartungen litten, bis dahin, dass sie nicht mehr leben wollten.
Was ich jenseits Ihrer eindrucksvollen persönlichen Geschichte jedoch nicht verstehe, ist, warum gerade das Transgenderkonzept helfen soll, stereotype Rollenklischees aufzuweichen. „Outen“, um mit Ihren Worten zu sprechen, Menschen sich als als zum anderen Geschlecht gehörig, leben sie das – Sie mögen eine Ausnahme bilden – in der Regel aus, indem sie Rollenklischees und Geschlechtsattribute des anderen Geschlechts bejahen: Männer als „trans Frauen“ verwandeln sich in Klischeefrauen – mit Lippenstift, Absatzschuhen und Kleidern; Frauen als „trans Männer“ bekommen Bart und Muskeln. Hingegen brechen Homosexuelle, die mit Esprit und Grazie Highheels und Lippenstift tragen, stereotype Geschlechternormen und machen so eine Gesellschaft vielfältiger. Das gleiche gilt für lesbische Freundinnen, die sich von typisch weiblichen Schönheitsnormen lösen, ohne dafür ihr biologisches Geschlecht in Frage zu stellen.
Das ist der Punkt, wo ich bei Ihrem Buch aussteige: bei dem Nonsens vom angeblich nicht eindeutigen biologischen Geschlecht. Angesichts weltweiter Diskriminierung von Frauen, die seit Jahrtausenden am biologischen Geschlecht ansetzt, ist es akademische Wortklauberei, um nicht zu sagen, purer Hohn, vom nicht existenten biologischen Geschlecht zu sprechen.
Unter denen, die das „Sex-is-a-spectrum“-Narrativ ablehnen, sind übrigens viele Frauen. Das liegt daran, dass sie besonders viel zu verlieren haben, wenn sich auch in Deutschland die für Frauenrechte toxische Kombination durchsetzt – wie in den USA und in UK –: Hierbei können Männer mit einer behaupteten Geschlechtsidentität praktisch bürokratiefrei den Geschlechtseintrag „Frau“ erlangen, und dann, weil Frauenräume und Frauenrechte nicht mehr dem Geschlecht vorbehalten sind, sondern der Geschlechtsidentität „Frau“, ohne Hindernisse Frauen verdrängen: Im Sport, in der Politik, in Umkleidekabinen oder in gar in Frauengefängnissen.
Sollten Sie eine kritische Meinung hierzu schon als „Hass“ bezeichnen, muss ich Ihnen im Gegenzug sagen, dass mir jedes Verständnis abhandenkommt, wenn Menschen versuchen, mir ein scheinbar inklusives, aber letztlich frauenschädigendes Wording aufzudrängen.
Ein Beispiel dafür ist die von Ihnen kritisierte Bezeichnung „Frauenambulanz“. Der Grund, warum Sie diese aufsuchen, ist doch, dass ihr Körper ungeachtet der Barthaare und der tiefen Stimme weiterhin weibliche Organe hat, und eine Frauenambulanz genau darauf eingerichtet ist. Zu verlangen, das möge umbenannt werden, finde ich zu kurz gedacht. Wie soll die Frauenambulanz denn genannt werden? Ambulanz für Uterusinhaberinnen? Oder für XX-Chromosomenträgerinnen?
Natürlich haben Sie alles Recht der Welt, sich so wahrzunehmen, wie Sie es tun. Jeder Mensch hat das, finde ich. Aber Sie haben nicht das Recht, von der Welt zu verlangen, sie möge Ihrer Wahrnehmung folgen, andernfalls würde man Sie „misgendern“ oder Ihnen „sprachliche Gewalt“ antun. Und noch weniger haben Sie das Recht, dass die Welt beginnt, sich Ihren Wünschen entsprechend umzugestalten.
Diesen Befindlichkeiten und Forderungen gegenüber bin ich umso kritischer eingestellt, als sie, wenn man sie berücksichtigt, sehr oft dazu führen, dass Frauen benachteiligt werden. Würde man Ihrem Wunsch entsprechend aus der Frauenambulanz das Wort „Frau“ entfernen, entstünde das Risiko, dass nicht deutsch sprechende Frauen nicht mehr wissen, wo sie hinsollen und ihre medizinische Versorgung leidet.
Und warum soll überhaupt die Frauenambulanz ihren Namen ändern? Wenn Sie sich als Mann identifizieren, könnten Sie ja auch in die Urologie gehen und verlangen, man möge Ihnen eine Spezialabteilung einrichten, die sich auf Ihre Bedürfnisse als „trans Mann“ eingestellt hat. Oder Sie könnten beklagen, dass die Urologie Sie diskriminiert, weil sie nicht auf „Männer mit Uterus und Brüsten“ eingestellt ist.
Im Übrigen scheint mir, dass Ihre Weigerung, das biologische Geschlecht als real anzuerkennen, bei der medizinischen Behandlung oder Forschung schlagartig enden muss– oder lassen Sie sich von einem Arzt behandeln, der auf Ihre Geschlechtsidentität abstellt, anstatt auf das biologische Geschlecht?
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Ich fühle mich in keinster Weise durch Menschen bedroht, die sich abweichend von strikten Geschlechterstereotypen oder Gendernormen verhalten, kleiden und benehmen. Im Gegenteil, ich freue mich über die Farbenpracht unserer Gesellschaft und die Freiheit, die entsteht, wenn sich Menschen nicht in „Schubladen“ stecken lassen. „Gut“ ist keinesfalls, was „normal“ ist. Ich glaube, hier sind wir uns einig. Auch ich wünsche mir, dass die mit den Geschlechtern verbundenen Vorstellungen abgeschafft werden. Und vor allem die ganzen Zwänge.
Im bin jedoch nicht der Meinung, dass wir das dadurch erreichen, dass wir das biologische Geschlecht negieren und mit sogenannter transinklusiver Sprache und dem Konstrukt der Geschlechtsidentität Frauen diskriminieren. Auch halte ich es für sehr problematisch, dass viele junge Menschen irrigerweise glauben, dass eine Hormonbehandlung oder gar eine Operation ihnen hilft, das Gefühl des Nichtdazugehörens zu überwinden. Beides sind schwerwiegende Eingriffe, die nicht wenige später bereuen. Bürokratie mag hier im Einzelfall belastend sein, kann aber dazu dienen, vor übereilten Entscheidungen mit weitreichenden Folgen zu schützen.
Mehr Akzeptanz für nicht konforme Menschen“ muss auch das Recht beinhalten, Sorge vor unerwünschten Auswirkungen artikulieren zu dürfen!
Mit freundlichen Grüßen
Eva Engelken
Ich bin Linus – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war
- Verlag: rororo
- Erscheinungstermin: 18.08.2020
- Lieferbar
- 224 Seiten
- ISBN: 978-3-499-00312-7
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