Aktuell wird das von der Grünen BT-Fraktion eingebrachte Selbstbestimmungsgesetz (BT 19/19755) nur im Zusammen mit der Selbstbestimmung von trans- und intersexuellen Menschen diskutiert. Ein Thema, das so wenig Menschen betrifft, dass sich jeder Unbeteiligte wundert, warum man ihm so viel Aufmerksamkeit schenkt. Was hingegen weder innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen noch außerhalb debattiert wird, ist, welch weitreichende Konsequenzen das Gesetz für Frauen hat, also für die Hälfte der Gesellschaft. Dabei sind gerade die Grünen eine Partei der starken Frauen.
Das Frauenstatut ermöglicht seit 2019 allen Männern, auf Fraenplätzen zu kandidieren
2019 wurde bei der 44. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen in Bielefeld das Frauenstatut geändert und eine neue Präambel eingefügt, nach der als Frauen alle erfasst werden, die sich selbst so definieren.
Präambel: „Von dem Begriff „Frauen“ werden alle erfasst, sie sich selbst so definieren. Ebenso wie die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen ist die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt ein Ziel von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Trans*, inter und nicht-binäre Menschen sollen in unserer Partei gleichberechtigte Teilhabe erhalten.
https://cms.gruene.de/uploads/documents/191121-Frauenstatut.pdf
Mit der Änderung hat die Self-ID Eingang in das Frauenstatut und alle davon betroffenen Regeln gefunden. Was weder vorher noch nachher erörtert wurde, ist, wie Missbrauch dieser Self-ID ausgeschlossen werden kann.
Was ist, wenn ein Mann sich nur zu dem Zweck als Frau identifiziert, um Frauenplätze geltend zu machen?
Als BDK-Delegierte erinnere ich mich an die Aussprache in Bielefeld. Gesine Agena und Nyke Slawik (die den Änderungsantrag mit eingebracht hatte) verteidigten die Änderung und sagten den Satz: „Transfrauen sind Frauen“. Tobias Balke wendete ein, dass die Auffassung, dass jede Frau, die sich als Frau bezeichne, auch als Frau zu behandeln sei, dazu führen könne, dass sich Männer nur als Frauen definierten, um auf Frauenplätzen kandidieren zu können. „Ich kenne meine Grünen“, sagte er. Sein Änderungsantrag fand jedoch keine Mehrheit, und die Änderung des Frauenstatus wurde beschlossen.
Dass Balkes Argumente kein Gehör fanden, lag, glaube ich, an zweierlei. Erstens an einem internen, zweitens an einem externen Grund.
Ausnutzung von Frauenrechten? Niemals bei den Grünen!
Erstens sind die Grünen die Partei, in der Frauen seit Parteigründung einen hohen Stellenwert genießen. Die Gleichberechtigung von Frauen und die Frauenrechte gehören zur DNA der Grünen Geschichte. Ein Großteil der aktuellen Neueintritte sind Frauen. Frauenrechte finden im neuen Grundsatzprogramm an vielen Stellen Beachtung. Innerhalb der Grünen überhaupt nur zu erwägen, dass ein grüner Mann das Frauenstatut für seine grüne Karriere missbrauchen könnte, wäre ein Zeichen von überzogenem Misstrauen. Deshalb hört man auch Niemanden solche Bedenken aussprechen.
Dabei muss man nur ins Vereinigte Königreich schauen, dass auch innerhalb der Grünen Partei Missbrauch durchaus vorkommt.
Zweitens richtet der Begriff Geschlechtsidentität bisher gesamtgesellschaftlich noch nicht viel Schaden an
Viel wichtiger aber als die innerparteiliche Nicht-Sorge über möglichen Missbrauch ist der externe Aspekt. Die Furcht, dass Männer flächendeckend Frauenrechte geltend machen könnten, ist nach aktuell gültiger Rechtslage noch kaum begründet. Anders als in Teilen der USA, Irland, Kanada oder Australiens, wo die Self-ID eingeführt wurde, sorgt in Deutschland das Transsexuellengesetz dafür, dass es Männern nicht möglich ist, mal eben das Geschlecht zu wechsenln, um missbräuchlich in Frauenräume einzudringen.
Das Transsexuellengesetz erfordert ein langwieriges Verfahren mit mehreren Gutachten, bis ein Mensch seinen Namen und seinen Personenstand ändern kann. Das senkt die Zahl derer, die das Recht missbrauchen können, weil nicht so viele dieses Verfahren auf sich nehmen.
Self-ID und Selbstbestimmungsgesetz in Kombination gefährden Frauenrechte
Das könnte sich jedoch ändern.
Im Juni 2020 bringen die Grüne Bundestagsfraktion und mehrere Abgeordnete den Entwurf eines Selbstbestimmungsgesetzes ein, das das Transsexuellengesetz ablösen soll. Ein ähnlicher Entwurf kommt von der FDP(19/20048).
Beide Entwürfe fordern den „selbstbestimmten Geschlechtseintrag“ und wollen das komplexe Verfahren abschaffen. Eine simple Erklärung vor dem Standesbeamten genügt und aus einem Mann wird eine Frau. Dauerhaftigkeit? Ernsthaftigkeit? Nebensache. Schon nach einem Jahr kann das Geschlecht wieder gewechselt werden.
Gefeiert und beworben wird diese Änderung als Erfolg der Selbstbestimmung. Sven Lehmann, grüner Bundestagsabgeordneter und queerpolitischer Sprecher, feiert die Freiheit, Würde und Selbstbestimmung, die entstehen würde, wenn das alte Verfahren wegfiele. Gutachten seien Zwang. Die alte Diagnose Transsexualismus oder die neue Diagnose Genderdysphorie oder Geschlechtsdysphorie sei pathologisierend, also krankmachend. Was zählt, ist die Selbstbestimmung. Ich sage, wer ich bin, also bin ich das.
Eine solche schrankenlose Selbstbestimmung öffnet die Tür für Missbrauch. Wenn die Selbstidentifikation als Frau reicht, um den Personenstand wechseln zu können und wenn der Zugang zu Frauenräumen nicht an das biologische Geschlecht, sondern an die Geschlechtsidentität geknüpft wird, geht die Tür zum Missbrauch auf.
By defining gender identity as something that exists to be protected “regardless of sex,” the act undermines sex-based provisions, replacing them with provisions based on gender self-identification.
https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1557085120918667
Wer sich auf ein langes Verfahren einlassen muss, um den Personenstand zu wechseln, überlegt es sich dreimal, ob er das auf sich nimmt. Wer nur zum Standesbeamten gehen muss, um sein Geschlecht juristisch zu ändern, und das Ganze nach schon einem Jahr wieder rückgängig machen kann, könnte eher versucht sein, das zu seinem Vorteil zu nutzen.
Ursprünglicher Grüner Gesetzesentwurf sah einen Missbrauchsbrauchsschutz vor
Der ursprüngliche Gesetzesantrag der Grünen zum Selbstbestimmungsgesetz von 2017 enthält eine Vorschrift, dass der Geschlechtswechsel bei Missbrauch ausgeschlossen sein soll.
Der Antrag kann nur abgelehnt werden, wenn er offenkundig missbräuchlich ist
Artikel 1 Entwurf eines Gesetzes zur Anerkennung der selbst bestimmten Geschlechtsidentität von 2017 Drucksache18/12179 http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/121/1812179.pdf
Der neue Gesetzentwurf von 2020 sieht eine solche Klausel nicht mehr vor.
Dass die Self-ID ausgenutzt wird, zeigen die Länder, in denen sie bereits existiert.
- https://fff.feministwiki.org/quellen/#Zu_spezifischen_Frauenschutzraeumen
- (Studie zu den Auswirkungen auf Frauen in Bezug auf den U.S. Equality Act: Burt, C.H.: Scrutinizing the U.S. Equality Act 2019: A Feminist Examination of Definitional Changes and Sociolegal Ramifications. In: Feminist Criminology 15/4 (2020), S. 363-409. https://doi.org/10.1177/1557085120918667 )
Frauenrechte? Nach dem neuen Gesetz zweitrangig
Die Folgen der schrankenlosen Self-ID für Frauen: Wenn Menschen mit männlichem Körper Zutritt zu Frauenräumen haben, schließt das streng religiöse Frauen aus der Sauna oder dem Fitnessstudio aus. Es kann ohnehin schon durch Männergewalt traumatisierte Frauen in Frauenhäusern retraumatisieren oder sie erneut Gewalt aussetzen. Im Sport kann die Teilnahme von Menschen mit männlichem Körper Sportlerinnen den Sieg und die Gesundheit kosten.
Das für sich genommen ist schon nicht gut. Das neue Selbstbestimmungsgesetz will aber noch mehr: Es will Frauen das Recht nehmen, sich gegen das selbstverständliche oder boshaft missbräuchliche Eindringen von Männern in ihre Räume zu wehren. Sobald diese Personen rechtlich als Frauen gelten, kann keine Frau mehr sagen, „ich will diese Männer nicht in meinen Räumen!“
Frauen, die sich wehren, begehen eine Ordnungswidrigkeit. Strafe: Bis 2.500 Euro
Es kommt noch heftiger. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird es Frauen verboten, sich gegen Transfrauen in ihren Räumen zu wehren. Die „Offenbarung“, dass eine Person früher ein Mann war, ist nach dem neuen Selbstbestimmungsgesetz als Ordnungswidrigkeit strafbar. Das Gesetz sieht ein Bußgeld von bis zu 2.500 Euro vor.
Spätestens hier sollte innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Partei Bündnis 90 /Die Grünen eine Debatte stattfinden, ob man das will.
Offizielle Linie: Eine Gefahr für Frauenrechte besteht nicht
Als ich sowohl in einem grünen Workshop als auch in einer grünen Facebookgruppe äußere, dass man das Selbstbestimmungsgesetz diskutieren sollte, reagiert man bislang zurückhaltend bis ablehnend. Von einer wird mir sogar vorgeworfen, ich würde eindeutige Beschlüsse der Partei nicht akzeptieren.
„Trans-Frauen sind Frauen. Punkt. Dazu haben wir als Partei eindeutige Beschlüsse gefasst. Wenn du das nicht akzeptieren möchtest, dann bist du in der falschen Partei“
Grüne Frau auf Facebook
Dass ich Parteibeschlüsse nicht akzeptiere, ist nicht der Fall. Ich akzeptiere sie. Wenn wir als Grüne definiert und im Frauenstatut festgelegt haben, dass unter den Begriff Frauen auch Menschen fallen, die sich als Frauen identifizieren, verweigere ich diesen Personen nicht, sie als Frau anzusprechen oder sie in Frauenräumen zuzulassen.
This never happens! Sicher?
Was ich nicht hinnehme, ist, dass eine solche Definitionserweiterung in Kombination mit dem Selbstbestimmungsgesetz dazu führt, dass sich Frauen nicht mehr gegen Missbrauch wehren dürfen. Dagegen zu sein, dass Männer, die wie Männer aussehen und lediglich erklärt haben, eine Frau zu sein, in ihre Räume eindringen dürfen. So etwas würde niemals passieren, ist man sich auf Facebook einig.
Niemand spricht doch von unkontrollierter Freigabe geschlechtsangleichender (!) Maßnahmen. Niemand will Testosteron im Kaugummiautomaten verkaufen.
Grüne Frau auf Facebook
Anders als diese Frau meint, sollen genau diese geschlechtsangleichenden Maßnahmen nach dem neuen Gesetz freigegeben sein. Die Krankenkassen müssen sie bezzahlen, aber dürfen nicht mehr gegenteilige Gutachten ausstellen. Einer transidenten Person von einer körperlichen Transition abzuraten, kann sogar als Verstoß gegen der Verbot von Konversionstherapien bestraft werden. Das gefährdet im übrigen die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Mehr dazu auch feministwiki.de
In Teilen Grünlands herrscht die Meinung vor, dass Menschen, die sich als trans identifizieren, sowieso unterdrückt sind, weshalb jede Form von Misstrauen unangebracht sei.
Trans Personen sind eine der marginalisiertesten, am stärksten von Mehrfachdiskriminierung betroffenen Gruppen der Gesellschaft. Trans Personen und insbesondere trans Kindern Selbstbestimmung zu verweigern hat mit Feminismus nichts zu tun.
Grüne Frau auf Facebook
Die Debatte kreist bisher in offiziellen Gremien nur um die Diskriminierung von Transmenschen, die mit dem Gesetz bekämpft werden soll. Dass die Self-ID zulasten von Frauen geht, ist nicht bekannt oder wird nicht wahrgenommen.
Glauben Sie ernsthaft, dass cis Männer ihren Geschlechtseintrag in „weiblich“ ändern werden, um in Frauenräume einzudringen, Quotenregelungen geltend zu machen usw. Das ist doch total absurd.
Grüne Frau auf Facebook
Nicht alle sind dafür, die meisten wussten nur noch nichts von dem Gesetz
Dort, wo ich mich an der Basis und außerhalb der offiziellen Zirkel umgehört habe, ist die Meinung anders. Horcht man nach, was Frauen und Männer von der geplanten Neuregelung halten, hört man Überraschung und Ablehnung.
Boah. GEHT GAR NICHT, dieser Gesetzesantag! […]Wäre für mich sogar ein Grund, meine Mitgliedschaft bei den Grünen zu überdenken.
Grüne Frau an der Basis
Das heißt für mich, dass hier eine notwendige Debatte noch nicht stattgefunden hat. Sprich, sie sollte stattfinden. Sie nicht zu führen, hieße, grüne Kernwerte und damit einen Teil der Grünen Geschichte zu verraten.
Mehr zum Thema Self-ID in diesem Blog
Leserbrief und Kurzrezension zu „Ich bin Linus – wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“
Victoria
Danke, liebe Eva, für diesen wichtigen Beitrag!
Es ist erschütternd, wie antidemokratisch sich viele Parteien geben, sobald es um Frauenrechte geht. Hier ist eine Debatte dringend notwendig!
engelkeneva
Ja, die schweigen das aus oder weigern sich, die Augen aufzumachen, hat man manchmal den Eindruck!
Carla
Ich bereite im Moment einen Vortrag zu den Folgen vom Self-ID Gesetz vor. Du hast mir mit diesem Artikel super geholfen! Danke (: